Als Reaktion auf die seit Februar existierende Protestbewegung im eigenen Land und die Ereignisse in den arabischen Nachbarstaaten, versprach König Mohammed VI am 9 März in einer Ansprache an das Volk demokratische Reformen. Gestern Abend nun stellte er in einer weiteren Ansprache die großen Linien der neuen Verfassung vor, über die am 1. Juli in einem Referendum abgestimmt werden soll.
Der bisher vom König auserwählte Premierminister wird nun von der Partei bestimmt, die die Parlamentswahlen gewinnt. Zudem wird er künftig den Titel Regierungspräsident tragen und mit ein paar mehr Zuständigkeiten ausgestattet sein (z.B. mit dem Recht, die Repräsentantenkammer aufzulösen).
Die Sprache Amazigh soll gleichberechtigt neben Arabisch als offizielle Sprache des Landes gelten, eine Änderung die seit Jahrzehnten von den Amazigh (Berber), die etwa 50% der marokkanischen Bevölkerung ausmacht, gefordert wird. Neben einer von Legislative und Exekutive unabhängigen Justiz verspricht Mohammed VI, dass in Zukunft internationale Abkommen über dem marokkanischen Gesetz stehen. Neu ist auch, dass in Marokko lebende Ausländer das Recht bekommen sollen an lokalen Wahlen teilzunehmen.
Was die Gewaltenteilung und Machtkonzentration in den Händen der Monarchie anbelangt, wird es in der neuen Verfassung, so sie von der Bevölkerung angenommen wird, nicht geben.
Die Person des Königs gilt zwar nicht mehr als heilig aber immer noch als unantastbar, das heißt M6, wie er in Marokko häufig genannt wird, entzieht sich jeder Gerichtsbarkeit. Er wird auch weiterhin Richter, Diplomatische Vertreter, Militärs und Walis (Gebietsvorsteher) bestimmen sowie dem Ministerrat vorsitzen. Auch dem Sicherheitsrat, der mit der Aufgabe interne, strukturelle und unvorhersehbare Sicherheitsfragen neu eingerichtet werden soll, wird der König vorsitzen. Der Monarch ist in Zukunft immer noch gleichzeitig Staatsoberhaupt, Oberster Heerführer, und Führer der Gläubigen (Amir Al Mouminin), sprich er vereinigt weiterhin in sich politische, exekutive, gerichtliche und religiöse Macht. Sämtliche politischen Entscheidungen hängen immer noch von seiner Zustimmung ab, sodass die Forderung, der König solle regieren ohne Politik zu machen, nicht erfüllt worden ist. Nicht erwähnt wurde auch eine Trennung politischer und ökonomischer Macht, die Königsfamilie besitzt Anteile an den größten Unternehmen Marokkos und ist auch wirtschaftliche omnipotent.
Die neue Verfassung hat das Ziel, so die Worte des Königs, die Säulen einer konstitutionellen, demokratischen, parlamentarischen und sozialen Monarchie zu festigen. Er betonte am Ende seiner Rede, dass ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Zuge der Volksabstimmung am 1. Juli ein „Ja“ zu einem geeinigten Marokko sein würde.
Mehrere Analysten wie der derzeit in Kalifornien lebende marokkanische Journalist Ahmed Benchemsi oder der Blogger „Larbi“ bezeichnen die geplanten Reformen als reine Fassadenmalerei, da viele der nun angeblichen neuen Rechte und Freiheiten schon in der aktuellen Verfassung existieren – es fehlt die Anwendung.
Auch die Bewegung des 20. Februars, die den Reformprozess überhaupt erst ins Rollen gebracht hat, zeigt sich enttäuscht. Sie waren von vornherein gegen diese Reform, da sie nicht auf demokratischen Füßen ruht: Die Kommission, die die Verfassung überarbeiten sollte, ist nicht vom Volk gewählt sondern von Mohammed VI eingesetzt worden, welcher sich vor allem als der Monarchie loyal gegenüber bekannte Personen aussuchte.
Ein weiterer Punkt ihrer Kritik an der oktroyierten Verfassung ist die Tatsache, dass die Marokkaner beim Referendum nicht für jeden Artikel einzeln stimmen können sondern den Text als Ganzen annehmen oder ablehnen müssen. Zudem liegen zwischen der Bekanntgabe des Textes gestern und dem Datum des Referendums lediglich zwei Wochen- kaum genug Zeit also für Debatten und Analysen. Dies und die Tatsache, dass die neue Verfassung nicht auf ihre Forderungen nach Demokratie und Gewaltenteilung eingeht, hat die Bewegung zu dem Entschluss kommen lassen, zum Boykott des Referendums aufzurufen. Für morgen sind zudem wieder Kundgebungen in mindestens 70 Städten Marokkos geplant.
Nach der Rede des Königs kam es in Rabat und anderen Städten Marokkos zu spontanen Feiern, deren Vorbereitung man bereits eine Stunde vor der Rede beobachten konnte. In einem youtube-Video einer solchen Feier in Youssoufia ist folgender Dialog zu hören: „Bezahlt uns, damit wir endlich gehen können!“ Antwort des Agenten: „Wartet die Rede ab, wartet die Rede ab“. In Rabat wurden außerdem mindesten zehn Aktivisten der Bewegung von Anhängern der Monarchie, vermutlich ebenfalls dafür bezahlt, beschimpft und verprügelt.
Ob die neue Verfassung angenommen wird oder nicht – letzteres ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich – die Praktiken sind die gleichen geblieben, Propaganda und Repression sind immer noch beliebte Mittel des Staates. Solange sich daran nichts ändert, wird es auch in Marokko keine auf Freiheit und Gleichheit basierende Demokratie geben.