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Die alte neue Verfassung

18 Jun
 

Als Reaktion auf die seit Februar existierende Protestbewegung im eigenen Land und die Ereignisse in den arabischen Nachbarstaaten, versprach König Mohammed VI am 9 März in einer Ansprache an das Volk demokratische Reformen. Gestern Abend nun stellte er in einer weiteren Ansprache die großen Linien der neuen Verfassung vor, über die am 1. Juli in einem Referendum abgestimmt werden soll.

Der bisher vom König auserwählte Premierminister wird nun von der Partei bestimmt, die die Parlamentswahlen gewinnt. Zudem wird er künftig den Titel Regierungspräsident tragen und mit ein paar mehr Zuständigkeiten ausgestattet sein (z.B. mit dem Recht, die Repräsentantenkammer aufzulösen).
Die Sprache Amazigh soll gleichberechtigt neben Arabisch als offizielle Sprache des Landes gelten, eine Änderung die seit Jahrzehnten von den Amazigh (Berber), die etwa 50% der marokkanischen Bevölkerung ausmacht, gefordert wird. Neben einer von Legislative und Exekutive unabhängigen Justiz verspricht Mohammed VI, dass in Zukunft internationale Abkommen über dem marokkanischen Gesetz stehen. Neu ist auch, dass in Marokko lebende Ausländer das Recht bekommen sollen an lokalen Wahlen teilzunehmen.

Was die Gewaltenteilung und Machtkonzentration in den Händen der Monarchie anbelangt, wird es in der neuen Verfassung, so sie von der Bevölkerung angenommen wird, nicht geben.
Die Person des Königs gilt zwar nicht mehr als heilig aber immer noch als unantastbar, das heißt M6, wie er in Marokko häufig genannt wird, entzieht sich jeder Gerichtsbarkeit. Er wird auch weiterhin Richter, Diplomatische Vertreter, Militärs und Walis (Gebietsvorsteher) bestimmen sowie dem Ministerrat vorsitzen. Auch dem Sicherheitsrat, der mit der Aufgabe interne, strukturelle und unvorhersehbare Sicherheitsfragen neu eingerichtet werden soll, wird der König vorsitzen. Der Monarch ist in Zukunft immer noch gleichzeitig Staatsoberhaupt, Oberster Heerführer, und Führer der Gläubigen (Amir Al Mouminin), sprich er vereinigt weiterhin in sich politische, exekutive, gerichtliche und religiöse Macht. Sämtliche politischen Entscheidungen hängen immer noch von seiner Zustimmung ab, sodass die Forderung, der König solle regieren ohne Politik zu machen, nicht erfüllt worden ist. Nicht erwähnt wurde auch eine Trennung politischer und ökonomischer Macht, die Königsfamilie besitzt Anteile an den größten Unternehmen Marokkos und ist auch wirtschaftliche omnipotent.
Die neue Verfassung hat das Ziel, so die Worte des Königs, die Säulen einer konstitutionellen, demokratischen, parlamentarischen und sozialen Monarchie zu festigen. Er betonte am Ende seiner Rede, dass ein „Ja“ zur neuen Verfassung im Zuge der Volksabstimmung am 1. Juli ein „Ja“ zu einem geeinigten Marokko sein würde.

Mehrere Analysten wie der derzeit in Kalifornien lebende marokkanische Journalist Ahmed Benchemsi oder der Blogger „Larbi“ bezeichnen die geplanten Reformen als reine Fassadenmalerei, da viele der nun angeblichen neuen Rechte und Freiheiten schon in der aktuellen Verfassung existieren – es fehlt die Anwendung.
Auch die Bewegung des 20. Februars, die den Reformprozess überhaupt erst ins Rollen gebracht hat, zeigt sich enttäuscht. Sie waren von vornherein gegen diese Reform, da sie nicht auf demokratischen Füßen ruht: Die Kommission, die die Verfassung überarbeiten sollte, ist nicht vom Volk gewählt sondern von Mohammed VI eingesetzt worden, welcher sich vor allem als der Monarchie loyal gegenüber bekannte Personen aussuchte.
Ein weiterer Punkt ihrer Kritik an der oktroyierten Verfassung ist die Tatsache, dass die Marokkaner beim Referendum nicht für jeden Artikel einzeln stimmen können sondern den Text als Ganzen annehmen oder ablehnen müssen. Zudem liegen zwischen der Bekanntgabe des Textes gestern und dem Datum des Referendums lediglich zwei Wochen- kaum genug Zeit also für Debatten und Analysen. Dies und die Tatsache, dass die neue Verfassung nicht auf ihre Forderungen nach Demokratie und Gewaltenteilung eingeht, hat die Bewegung zu dem Entschluss kommen lassen, zum Boykott des Referendums aufzurufen. Für morgen sind zudem wieder Kundgebungen in mindestens 70 Städten Marokkos geplant.

 

Aufruf zum Protest gegen das Referendum

Nach der Rede des Königs kam es in Rabat und anderen Städten Marokkos zu spontanen Feiern, deren Vorbereitung man bereits eine Stunde vor der Rede beobachten konnte. In einem youtube-Video einer solchen Feier in Youssoufia ist folgender Dialog zu hören: „Bezahlt uns, damit wir endlich gehen können!“ Antwort des Agenten: „Wartet die Rede ab, wartet die Rede ab“. In Rabat wurden außerdem mindesten zehn Aktivisten der Bewegung von Anhängern der Monarchie, vermutlich ebenfalls dafür bezahlt, beschimpft und verprügelt.

Ob die neue Verfassung angenommen wird oder nicht – letzteres ist jedoch nicht sehr wahrscheinlich – die Praktiken sind die gleichen geblieben, Propaganda und Repression sind immer noch beliebte Mittel des Staates. Solange sich daran nichts ändert, wird es auch in Marokko keine auf Freiheit und Gleichheit basierende Demokratie geben.

15. Mai in Rabat…

15 Mai

Auf der Suche nach einem netten Café zum Frühstücken laufe ich die Avenue Mohamed V entlang, die Prachtstraße Rabats. Auf der Höhe des Cafés „Comédie“ findet die angekündigte Pro-Palästina Demonstration statt, es sind nicht sehr viele die hier friedlich demonstrieren, die Zahl der Ordnungskräfte ist jedoch nicht gerade gering.
Im Zuge der in Marokko seit fast drei Monaten sehr präsenten Demokratiebewegung soll heute zudem ein Picknick vor einem Gefängnis in Temara stattfinden, um gegen die Verwahrung und Folterung der Gefangenen – es soll sich vor allem um Islamisten handeln – friedlich zu demonstrieren. Die Existenz dieses Gefängnisses, das von einigen als das „marokkanische Guantanamo“ bezeichnet wird, wurde von der marokkanischen Regierung bisher vehement bestritten.
Auf dem Weg zurück aus der Medina laufe ich durch die Avenue Abdellah, von weitem sehe ich bereits dass der Palästina-Protestzug sich ebenfalls dort befindet, und zwar auf der Höhe des „Septième Art“.
Plötzlich kommen aus der Straße, welche die Avenue Abdallah mit der Avenue Mohamed V verbindet, Menschen gerannt, vielleicht 30 oder 40 auf den ersten Blick junge Leute laufen erkennbar vor etwas davon.

Wer in Rabat lebt ist dieses Bild der rennenden Menschenmengen schon „gewohnt“, bei den seit dem 20. Februar noch intensivierten regelmäßigen Demonstrationen der arbeitslosen Diplomanden ist das die Regel – die Ordnungskräfte rennen Schlagstock schwingend auf die Demonstrierenden zu, diese rennen so lange weg bis die Polizei sie nicht mehr verfolgt, um dann wieder zum Ursprungsort zurückzukehren und weiter zu demonstrieren. Das „Spiel“ kann von vorne losgehen und tatsächlich kann man dieses Wegrennen und Zurückkehren mehrere Male hintereinander beobachten.

Heute jedoch sind es jedoch nicht nur einige Polizisten sondern ganze Mannschaften von Ordnungskräften und Polizei die hinter den Leuten her rennen. „Schneller, schneller“ rufend rennen sie hinter den Davonlaufenden her und suchen die umliegenden Cafés, in die sich einige geflüchtet haben, gezielt nach ihnen ab. Aus einiger Entfernung sehe ich wie mehrere Polizisten mit ihren Schlagstöcken auf jemanden einschlagen, einem anderen wird die Brille vom Gesicht gefegt und sein Handy auf dem Boden zertrümmert. Ich treffe einen Freund der mir berichtet, dass das Picknick vor dem Gefängnis von der Polizei gewaltsam verhindert worden ist, Ergebnis sind etwa 40 Verletzte und 15 Festnahmen (die Festgenommenen sind am gleichen Tag wieder auf freien Fuß gelassen worden). Bereits gestern Abend sagte er mir, dass er ein ungutes Gefühl bezüglich jedweder Kundgebung für Sonntag habe. Grund für seine Vorahnung war das ebenfalls nicht gewaltfreie Einschreiten bei einer friedlichen Aktion des „Mouvement 20. Février“ (Bewegung des 20. Februars) am Samstag. Die Mitglieder der Bewegung hatten eine Kampagne zu ökologischem Bewusstsein in einem populären Viertel Rabats gestartet, bei welcher die Bevölkerung gleichzeitig für das geplante Picknick vom Sonntag mobilisiert werden sollte.

Am 9. März hatte der marokkanische König weitreichende Reformen angekündigt und eine Kommission zur Überarbeitung der Verfassung eingesetzt. Doch wie soll die Demokratie aussehen, von der er sprach? Wie die Öffnung des Landes, die er ankündigte? Werden dort prügelnde Polizisten weiter Platz haben oder werden die Menschen von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen können? Wird es Raum für Kritik, für Andersartigkeit, für Freiheit geben? Oder müssen sich diese Räume weiterhin selbst gesucht und geschaffen werden, in einem engen Rahmen von Repression und Unsicherheit?
Der Juni wird für die kommende Entwicklung Marokkos entscheidend sein, denn da wird die vom König eingesetzte Kommission ihre Änderungsvorschläge für die marokkanische Verfassung vorstellen, die seit dem 9. März Gegenstand zahlreicher Debatten, Seminare, Konferenzen ist. Es wird sich dann zeigen, ob diese den Forderungen, Hoffnungen, Erwartungen vor allem der Marokkaner entsprechen wird, die seit Monaten eben denen regelmäßig lautstark und stets friedlich Ausdruck verleihen.